Mittwoch, 19. Oktober 2011

Mungu wetu ni waajabu!


Die Tatsache, dass die auf Papier gefassten Worte nicht alles fassen können und den wirklichen Eindrücken nicht gerecht werden, machen mir das Schreiben schwer. Ich versuche Erlebtes anzubrechen und Raum für eigene Eindrücke zu lassen. 
Nachdem wir den Wazungupreis beim Einchecken für jedes übergewichtige Gepäckstück bezahlt haben, der Flug verflogen zu sein scheint, wir einen Tag lang Mwanza durchschlendert haben, einen wunderschönen Sonnenuntergang am Hafen verfolgt haben, genießen wir die verblassende Küste und befinden uns auf Überfahrt nach Kemondo, meiner einmonatigen Heimat.
Nachts um vier erreichen wir den Hafen und werden von Debbie empfangen. Ein durchlöcherter Weg führt von der Hauptstraße zum Kinderdorf, vorbei an Bananenplantagen, eingetaucht in eine grün blühende Hügellandschaft mit Blick auf den sterbenden Viktoriasee. So eine gewaltige Masse Wasser lädt zum Baden ein und hält das Messer Bilharziose hinterm Rücken versteckt. Seeadler überfliegen die Landschaft und man fühlt sich stets von Schlange, Krokodil und Nilpferd umgeben und in Gott geborgen.
Das Fischerdorf, das ich beim Erkunden der Umgebung passiere, scheint eine Welt für sich zu sein. Alkoholisierte Väter trinken das Geld vom verkauften Fisch in einer Bar in der Stadt weg und die Frauen schlagen sich mit den Kindern in den aus Stroh und Lehm gebauten Hütten durchs Leben. Das potentielle Schulgeld der Kinder ist in den Händen des Barkeepers und die Kinder sind zukünftige Fischer mit Alkoholproblemen – traurige Welt.
Bei dem ersten Rundgang durch das Kinderdorf, fallen einem eine Truppe von Kids in tansanischfarbener Schuluniform um die Beine. Ehemalige Straßenkids, von denen einige in der Shamba oder in einer Bananenplantage gefunden wurden. Kids, die ihre Eltern an Aids verloren haben und denselben Lebensausgang erwarten. Kids, mit ganz neuen Lebenschancen, weil Menschen sich bereit erklärt haben ihr Leben dem Dienst hinzugeben. Etwa 15 Kinder teilen sich eines der acht Häuser und bekommen Nahrung und Liebe von Hausmama und Dada und ich ringe mit 113 Namen und haue stets die auswendig gelernten Begrüßungsfloskeln raus. Während ich Unkraut in der Shamba bekämpfe, einem Affen beim Bananenklauen zuschaue, von Ugali besiegt werde und mich beim Basket- und Fußballspielen auslaste, kommen immer wieder neue Vokabeln hinzu. Einige der älteren Jungs werden zu Vertrauten und ich genieße ihren besonderen Humor. Ich beobachte die Kinder, wie sie mit Freude um sich werfen, als gäbe es kein Aids, als hätten sie Eltern und als wüssten sie wie alt sie wirklich sind. Voller Scham stelle ich fest wie leichtsinnig es von mir wäre, das Gebetsanliegen meines kranken Opas bei einer Jugendstunde zu erwähnen, während ein Haufen kranker Kinder tatsächlich dafür gebetet hätten.
Es ist komisch nichts von der Heimat mitzubekommen und über eine simple Sms zu erfahren, dass der Opa im Sterben liegt. Die Nachrichten aus der Heimat werden von Tag zu Tag immer seltener und man ist nur noch hier.

Mit bepacktem Rücken durchbreche ich Busch, überquere Fluss, der durch Keimtablette trinkbar gemacht wird und mache Halt an Orten mit schönem Ausblick. Weit oben auf dem Berg, von wo aus man weites, wildes, menschenleeres Land überblickt, komme ich zur Ruhe. Am Lagerfeuer unter Mondschein schlägt mein Herz schneller und Worte der Ermutigung verlassen meinen Mund und durchdringen, wenn mit Geist, Verstand und Herzen der elf Jungs, die gemeinsam den dreitägigen Hijk bestreiten. Gewitter über der Plane reißt dich aus dem Schlaf, lässt dich kurz die Entfernung schätzen und ein möglicher Einschlag wird ausgeschlossen. Anschließender Sternenhimmel wird nach kurzem Vergleich als unvergleichlich prächtig eingestuft. Sonnenaufgang am Ende des weiten Tales vor dir am Horizont des Viktoriasees lässt dich kurz zweifeln, ob du das gerade wirklich siehst. Keine lärmenden LKWs auf nahegelegenen Autobahnen, keine Straßenlaternen, keine Straßen – der Klang der Natur spielt einen wunderschönen Solopart. Knurrend legt sich mein Herz zur Ruhe, wenn Abenteuer gekonnt am Nacken krault. Der Gedanke einen Schritt in die Wildnis zu wagen ist begleitet von lauter Befürchtungen vor möglichen Gefahren, doch wer bereits zwei Schritte gegangen ist, stellt fest, alles ist halb so wild.  
Zu sehen, wie Menschen in diese wilde Welt eingebettet sind und überleben, regt zum Nachdenken an. „What do you think of this boring african life?“ fragt mich der etwa 14 jährige Anderson, der sich nach dem Schritt hinter die Grenzen sehnt. Verwundert versuche ich ihm zu erklären, wie sehr er all das schätzen wird, wenn er den Sprung in die von Geld besessene Welt gemeistert hat. Menschen führen Kriege zur Friedenssicherung und der Gewinner kriegt Öl, Wasser und andere Ressourcen. Es wird gekämpft um anschließend in Macht und Ehre zu baden. Verachtung folgt, wenn dein Mitstreiter höheres Ansehen genießt. Für die gleiche Sache streitend, überkommt den Einen die Eifersucht, weil der Andere das Wort führt. Dieser hält sich stolz für etwas Besseres. Männer besteigen lachend Machtberge über Fehltritte ihrer Brüder. Geld beruhigt das Gewissen, wenn man eine Leiche höher gestiegen ist. Im Gottesdienst steigt innere Ärgernis, weil dein Sitznachbar die zehn Euro, die du liebevoll vorgestreckt hast, scheinbar aus seinen Gedanken radiert hat. Äußere Welt drückt die Seele in immer enger werdende vier Wände - eingeschlossen in Depression, Verzweiflung, Angst vor Versagen und Enttäuschung. Welt ringt mit dem Alltag, Mensch kämpft mit dem Leben.

Kinder passieren an meinem Zimmerfenster vorbei und schlagen mit einem Stock, in leeren Gedanken versunken durch das Gras. Dem Vater gab ihre Geburt Anlass die weite Welt zu suchen, die Mutter verliert den Kampf gegen Aids bevor sie das Wort „Mama“ das erste Mal in den Mund genommen haben. Der kleine Moses streckt mir seine Arme entgegen, um in den Arm genommen zu werden. Das er von seinen Eltern in einer Bananenplantage ausgesetzt wurde, ist ihm noch nicht bewusst. 113 Kinder strecken die Hand in die Höhe als eine der Hausmamas im Gottesdienst fragt, wer bereits einen Todesfall in seiner Familie erlebt hat. Ich sitze in meinem Zimmer, betrachte das Foto der etwa 70 Leute, die ich als Familie bezeichnen darf und kann mich von einigen als wirklich geliebt schätzen. Ältere Kids stolpern über Fragen – „Warum? Wer bin ich? Wer liebt mich?“ Introvertiert und schüchtern suchen sie deine Nähe, und hoffen auf bedingungslose Liebe, die vom Herzen kommt.
Spaß beim Unospielen löst kraftvolles Lachen bei ihnen aus und tiefe, innere Freude ist ihrem Gesang zu vernehmen, wenn sie im Gottesdienst „Mungu wetu ni waajabu“ singen. Mein Herz weint, wenn ich ihnen zuhöre und fragend schlafe ich ein, wie sie so standhaft in diesem Leben sein können.
Ehrliche Liebe empfinde ich für sie. Liebe als Motivation zum Geben ohne Erwartung. Liebe als Motor eine zerbrochene Welt in die Gänge zu bringen. Liebe als Waffe im Kampf gegen Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Menschen kämpfen für Ruhm, Macht und Ansehen und sterben alleine. Andere sterben im Kampf um die Liebe und retten die sterbende Welt. Einer der wenigen Kämpfe, der sich lohnt Größer ist die Trauer, wenn Bruder neben Bruder in Hass lebt, als wenn Fünfjährige sich nach nie gekannten, verstorbenen Brüdern sehnen, aber verstehen zu lieben. Mama trägt gebrochenes Herz in sich, weil Papa Liebe vergessen hat. Fast ausnahmslos haben die Kinder hier nie den Herzschlag ihrer Mutter verspürt.  
Es ist nicht leicht zu ordnen, was die Seele fühlt, doch die Beziehung zu Gott kristallisiert sich wieder mal als essentiell heraus und in Ihm finde ich Kraft, Frieden, Ruhe und Liebe.  
Ich genieße das Leben hier, freue mich aber sehr Freunde und Familie bald wieder in die Arme zu schließen. Ich denke an euch und liebe euch! Vergebt die Unordnung in diesem Eintrag.