Donnerstag, 26. April 2012

Wir lieben uns!

Ich habe immer so viel zu sagen, doch wenn ich gedankliche Ordnung hineinbringen will, verstumme ich irgendwann und sage nichts. Mal fühle ich und will mich mitteilen, warte ein wenig und schon überfallen mich neue Gefühle von ganz anderem Ufer. Schildere ich nur die eine Seite, ist es unvollkommen und an beide Ufer reicht mein Wortschatz nicht. Daraufhin bleibe ich wieder stumm.

Nichtsdestotrotz will ich gerne meine Beziehung zu Tansania ein wenig aufführen und erläutern in welchem Verhältnis wir zueinander stehen.

Man sagt ja immer die inneren Werte zählen, doch schwerer ist es zu lieben, wenn man das Äußere nur ungerne anschaut. Ich wurde von Afrikas schönsten Stränden begrüßt, weiß und blau überlaufen sich und alles scheint noch so unentdeckt, so unberührt, als hätte sie sich so lange für den Richtigen bewahrt. Fotos von Traumstränden mit Palme, Sand und Meer, die ich damals als „nicht von dieser Welt“ kommentiert hätte, habe ich nun selbst geschossen. Jeden Tag Sommer mit voller Hitze habe ich für die ersten drei Wochen gelebt.

Die fruchtbare Hügel- und Gebirgslandschaft am Viktoriasee, der Quelle des Nils, folgte im Anschluss. Ich lebte mit Bananenplantage und grünen Wäldern, Adlern und Affen. Nilpferde und Krokodile machten alles spannend, zeigten sich mir jedoch nicht.
Hinaus aus dem milden Klima ziehe ich in Tansanias Trockenlandschaft, wo sich nur ein paar Sträucher und Mbuyubaum durchgekämpft haben. Straub kriecht mir in die Kehle beim ersten Fußballspiel und die Sonne knallt, bis Arme und Füße braun glühen und ich schwitze. Doch wunderschön erheben sich die Ulugurumountains aus der Ebene und zeigen sich mit den Wolken im ständigen Farbspiel. Die himmlischen Wassertanks versuchen stets vorbeizuziehen, gehen jedoch nicht ohne Schauer zu hinterlassen und alles zu einer saftigen, fruchtbaren Landschaft mit Gold in den Flüssen zu verzaubern. In den höheren Hängen verwächst dichter Regenwald. Aufgrund der momentanen Regenzeit hat sich das Grün des Landes bis hier her gezogen und unsere fein bearbeiteten Shambas blühen und die einstige Steppe ist nur schwer zu durchwandern. Schlangen zeigen sich nur scheu und fürchten menschlichen Schlag.

Und dann spreche ich vom Garten Eden mit allen schönen Tieren dieser Welt, die frei und wild in einem weiten Land leben. Die Serengeti überfällt dich mit seiner Freiheit und lässt dich nicht los, bis in die Tiefe des Ngorongorokraters, dem schönsten Teil dieser Welt. Jede Nacht glitzern die Sterne wie Laternen über diese Welt, doch noch nie waren Sterne so schön und so groß an Zahl wie in der einen Nacht, als ich schweigend vor meinem Zelt in der Serengeti, dem Herzen Tanzanias, den Blick nicht senken konnte.

Nicht zuletzt ist mir das Haupt Tansanias, der Kilimandscharo vor die Augen gekommen und lässt Ehrfurcht walten. Vom höchsten Punkt, durch den schönsten bis hin zum tiefsten ist Tansania gefüllt mit Superlativen, wie nirgendwo anders. Reich an Ressourcen und reich an Schönheit.

Doch noch reicher an Korruption, die das Land trotz großem Schatz den Bach hinunterfährt.
Das Land, mit unglaublich attraktivem Äußeren, kämpft mit folgendem Laster. Mit korrupten Rossen reitet die Regierung Tansania in den Boden. So viel Potential steckt in den Menschen und mit so vielen Ressourcen ist das Land gesegnet, doch 50 Jahre lang frisst das reiche Ross. Angefangen mit dem Mienensektor, der an ausländische Investoren verkauft wurde, wo großes Geld fließt, von dem Tansania nichts zu sehen bekommt. In Form von Joint Ventures wird das Land ausgebeutet und führende Politiker füllen sich ihre Taschen. Das Volk schaut, noch schweigend, dabei zu wie ihre Gold- und Stahlschätze aus dem Land transportiert werden.
Wir sind gerade aus der Serengeti gekommen, als wir an einem schönen Aussichtspunkt über den Lake Manyara auf eine Familie mit zwei aufgemotzten BMWs treffen. Das Nummernschild deutet bereits daraufhin, dass es sich um einen Regierungsmitarbeiter handelt, was sich nach seiner stolzen Vorstellung schnell bestätigt. Er lächelt nur bescheiden, als wir ihn auf seine überteuerten Autos ansprechen und meint, dass das nichts Nennenswertes ist. Er erkundigt sich über unseren Aufenthalt und unsere Herkunft. Wir sagen ihm, dass wir Freiwillige sind, die dem Land helfen wollen, dass seine Regierung  ausbeutet. Wie gerne hätte ich ihm das vorgeworfen und ihn darauf angesprochen, wie es möglich ist von einen Tag auf den anderen das Visum von 120 Dollar auf 520 zu erhöhen.
Die Regierung steckt ihre Finger in jedes geldversprechende Unternehmen und beutet es lächelnd aus, während das Volk über Holz und Kohle kocht, im Öllampenlicht lebt und das Wasser auf dem Kopf durch das halbe Dorf trägt. Während die Regierungsleute ein Wochenende in der Serengeti verbringen, sind arme, ungebildete Tansanier noch nie aus ihrem Dorf herausgekommen.
Es mangelt an Geld, um eine gescheite Bildung zu erhalten. Von der Serengeti werden sie wahrscheinlich nie mehr zu sehen bekommen, als die Werbeplakate in den Innenstädten.
Ich unterhalte mich mit dem Pikipikidriver, der mich für 1000 Shilling durch die Innenstadt fährt, der mir stolz alle seine Englischvokabeln präsentiert. Er ist nie zur Schule gegangen, hat sich Lesen und Schreiben selbst beigebracht und lebt von meinem Fahrtgeld. Ich steige in den Bus, wo mir ein gebildeter Abiturient von seinen Auslandsplänen erzählt, die vermutlich nie wahr werden, doch glücklich kann er sich schätzen, dass er die Schule bis zur Form 4 abschließen kann. Für die meisten Kinder reicht das Geld bis zur siebten Klasse und dann leben sie von umgerechnet zwei Euro am Tag, die sie sich auf dem Feld oder auf dem Bau verdient haben. Andere verbringen ihre Zeit damit Zeitungen oder gekochte Eiern auf Busständen zu verkaufen. Die Zeitungen, in denen endlich von der großen Korruption in der Regierung zu lesen ist. Lange genug haben die Tansanier über die Fehlführung gesprochen, langsam fangen sie an aufzustehen. Erste Studentenaufstände werden laut, weil sie die Zusammenhänge verstehen. Bildung macht es möglich, doch so wenige können sie sich leisten. Hinzu kommt die unglaublich inkompetente Lehrbesetzung. An staatlichen Schulen sprechen die Lehrer unglaublich schlechtes Englisch - welche Aussichten haben die vielen Kinder unter diesen Voraussetzungen. 
Bei all der Armut verfällt das Volk in paradoxes Materialismusdenken und versucht aus allem Geld zu schöpfen und vor allem bei weißer Hautfarbe eine bettelnde Hand auszustrecken oder überhöhte Preise zu nennen. In 50 Jahren Freiheit sind sie nicht ganz vom Kolonialdenken heruntergekommen und sehen ihre Hoffnung im Westen, doch nur alleine kann man laufen.
Tansanias Laster zieht sich noch weiter über die Gesundheitssituation, wo Tausende an Maleria sterben, weil kein Geld für Medizin reicht, über verfallende Moralvorstellungen voll Unzucht, wo HIV gezielt weitergepasst wird, wo Erwachsene sich an Kindern vergreifen und Kinder Kinder gebären. Diese wiederum landen auf der Straße oder wachsen in Waisenhäusern auf. Nicht zuletzt ist alles von Kriminalität untermalt, wo Raub mit Mord nichts Erschreckendes ist. Ich erreiche unseren Busstand und finde nur einen Pikipikidriver statt den üblichen 60 vor, der mir auf meine verwunderte Nachfrage antwortet, dass alle zur Beerdigung eines verstorbenen Kollegen gefahren sind. Zu Hause angekommen erzähle ich die Geschichte und Neema antwortet mir: Kufa ni kawaida! (Tod ist nichts Ungewöhnliches!). Erschreckende Feststellung einer Zwölfjährigen, doch gesund wird über den Tod nachgedacht und er ist immer real und nah. Je bewusster man sich über den Tod wird, umso klarer lebt man.


Und nun zu dem was mir mein Herz völlig raubt. Immer wieder sprechen dich Leute in der Öffentlichkeit an und nach kurzem Überfliegen des Smalltalkgelabers geht es um das Echte. Gott ist real und eine Leidenschaft für ihn kann ich mit fast allen teilen. Es gibt keine Hemmungen und Tabus, die beim Thema Glauben erst übersprungen werden müssen und die Frage, ob es einen Gott gibt, ist völlig überflüssig. Jede Unterhaltung wird damit beendet, dass man sich gegenseitig zu sich nach Hause einlädt. Zu Gast bei ihnen haben sie nicht viel zu bieten, doch über ihre Kosten geben sie.  Ehrliche Gastfreundschaft erfährt man und man trifft immer wieder auf liebevolle, ehrliche, mit Freude gefüllte Tansanier, die trotz all der schwierigen Umstände das Echte behalten haben. Das Echte, das in Deutschland vom Materialismus gefressen wird und vom Belanglosen verschluckt wird.
Ich bin gerade in einem Restaurant und versuche ein wenig Abwechslung in den Alltag zu bringen. Ich hab wirklich schönen Blick auf die Berge und Daladala, Pikipiki und Fahrrad rauschen afrikanisch auf der Straße vorbei. Es fühlt sich gerade wirklich gut an auf Reise zu sein und ich habe Frieden. Ich habe wirklich schöne Zeiten mit den Kids. Sie öffnen sich mir, sind mir wirklich Freund und lieben mich. Es macht alles so schön, wenn man Menschen um sich herum hat, die einen lieben. Wenn man selber liebt, ist man glücklich. Gestern haben wir den Generator angeschlossen und das Spiel Bayern gegen Real geschaut - ein wirklich sehr schönes Spiel und die richtige Mannschaft hat gewonnen. Es hat gut getan ein wenig Deutschland gemeinsam zu beobachten, auch wenn sie, mir zum Trotz, alle für Real Madrid gejubelt haben. Mein Unterricht für die Kids läuft wirklich gut, sie fangen an ein Verständnis für Englisch zu kriegen und sie machen richtig Fortschritte. Anfangs war alles einfach nur enttäuschend. Ich kann kein richtiges Kiswahili und sie kein Englisch und ich soll ihnen irgendwas beibringen. Doch wir sind auf einen Nenner gekommen und unterrichten uns gegenseitig. Ich liebe es sie zum Lachen zu bringen und ihnen eine Freude zu sein. Ich übe mich in jeglicher handwerklicher Arbeit und repariere Dächer, Fenster, Abflusssysteme und es macht irgendwie Freude, nicht daran zu scheitern. Zurzeit lerne ich Fliesen legen. Ich gehe in letzter Zeit viel Basketball spielen und versuche ihnen ein Geschmack dafür zu geben. Sie sind wirklich gut und haben Spaß daran. Ich habe dort auch ein paar neue Freunde in meinem Alter gewonnen, die es wirklich drauf haben, doch der Weise zeigt ihnen wie es richtig geht. Es ist schwer zu beschreiben und ich bezweifele, dass man es wirklich nachvollziehen kann, doch man entwickelt so eine Liebe zu den Kids, wenn man sich bewusst macht, dass ihnen nicht wirklich viele Menschen bedingungslose Liebe gegeben haben. Und sie suchen unglaublich viel Nähe. Ich wünsche mir manchmal so sehr, dass irgendjemand von euch Freunden, das sehen könnte, denn ich werde es trotz vieler schöner Bilder und vielleicht bedacht gewählter Worte nicht beschreiben können.  Ein neues, fremdes Land kann einen mit vielen Dingen beeindrucken und in vielen Bereichen schocken, doch letztlich wird deine Beziehung zu dem Land an dem gemessen, wie viel Liebe du im Umgang mit deinen Mitmenschen erfährst. Diese kleinen, unbedeutenden Momente und die unscheinbaren Begegnungen verändern und sind so unglaublich wertvoll. Mit weitem Blick ist Tansania ein Land meines Herzens. Freunde sagen: „Home is where your heart is!“,  doch wo mein Herz sich gerade befindet kann ich nicht ganz genau sagen. Ich bin mir aber ganz sicher, dass Gott es sehr sorgfältig in Seinen Händen hält.
Einer der Pikipikidriver hat mich heute ans Steuer gelassen und ich bin nun zum zweiten Mal im Leben Motorrad gefahren. Fühlt sich afrikansich an. =) Wenn ich durch Morogoro laufe, sprechen mich Leute mit meinem Namen an, die ich noch nie im Leben gesehen habe, wenn ich mit dem Auto über unsere durchlöcherte Straße fahre, rufen Kinder laut: Kaka Paulo...nur weil ich weiß bin! :P =) Es ist schwer sich hier zu verstecken, doch umso bewusster und aufmerksamer lebe ich. Ich bin Gott glaube ich noch nie näher gewesen als gerade zu dieser Zeit. Hier liebe ich und hier lebe ich.

"And the King will answer and say to them, 'Assuredly, I say to you, inasmuch as you did it to one of the least of these My brethren, you did it to Me.' "

Kaka Paulo